Eingebettet zwischen den schroffen Zacken der Brenta-Dolomiten und dem bewaldeten Rücken der Paganella liegt ein See wie ein flüssiger Edelstein – der Lago di Molveno. Tiefblau schimmert er, als trüge er das Blau des Himmels selbst in sich. Seine Ufer sind gesäumt von alten Karrenwegen, von Wäldern, die von Mythen raunen, und von den Flüstern der Wellen, die Geschichten erzählen – wenn man denn zu lauschen versteht.

Der Molvenosee ist nicht nur ein geologisches Wunder, geboren aus dem Sturz eines ganzen Berghangs nach der letzten Eiszeit. Er ist auch ein stiller Chronist – ein See mit Gedächtnis. Und so wundert es nicht, dass sich auch um ihn eine alte Sage rankt. Eine Geschichte von Licht und Schatten, von Verlust und Ewigkeit.

Die Legende von der versunkenen Hirtin

Man erzählt sich, dass dort, wo heute das Wasser des Molvenosees leise gegen die Halbinsel am Westufer schlägt, einst eine Alm lag. Eine saftige, grüne Weide, auf der ein Mädchen lebte – Alba, die Tochter eines alten Hirten. Alba war bekannt für ihre klare Stimme, mit der sie jeden Abend ein uraltes Lied sang, das so rein war, dass selbst die Tiere des Waldes verstummten, um zu lauschen.

Eines Tages, so heißt es, begegnete Alba einem Fremden, der aus den Tiefen des Waldes kam. Groß war er, in dunkle Gewänder gehüllt, die Augen wie glühende Kohlen unter einer Kapuze verborgen. Er bot ihr Reichtum und Macht, wenn sie ihm das Lied ihrer Vorfahren schenken würde. Doch Alba lächelte nur traurig und sprach: „Ein Lied, das aus Liebe geboren wurde, lässt sich nicht verkaufen.“

Der Fremde verschwand mit einem Fluch auf den Lippen – doch in der folgenden Nacht bebte die Erde, als hätte ein Riese gegen das Herz des Berges geschlagen. Geröll löste sich, eine gewaltige Steinlawine donnerte ins Tal und begrub die Alm, die Wälder, selbst den Bach, der früher glitzernd durch die Weiden floss.

Als sich der Staub legte, war alles still. Anstelle der Alm war eine Senke geblieben. Und in dieser Senke sammelte sich langsam, fast schüchtern, das Wasser – klar, rein, und tief wie ein unvergessenes Lied.

Seitdem nennen die Menschen ihn Lago di Molveno.

Wenn der See singt

Bis heute, so sagen die Alten im Dorf Molveno, ist an manchen Abenden, wenn der Nebel vom Rio Lambin aufsteigt und die Sterne im See zu tanzen beginnen, eine Stimme zu hören. Leise, tröstlich, wie das Wispern der Vergangenheit. Manche glauben, es sei der Wind. Andere wissen: Es ist Alba, die noch immer ihr Lied singt, um die Berge daran zu erinnern, dass selbst in der Tiefe der Zerstörung Schönheit geboren werden kann.

Natur, Geschichte und Mythos in einem Atemzug

Der Lago di Molveno ist weit mehr als ein tiefblauer Fleck auf der Landkarte. Mit 124 Metern Tiefe und einem Einzugsgebiet, das sich wie ein Amphitheater zwischen Monte Gazza, Passo di Andalo und den Brenta-Gipfeln ausbreitet, ist er ein Juwel des Trentino. Seine Entstehungsgeschichte – ein urzeitlicher Bergrutsch, der Wälder verschlang und Baumstümpfe zurückließ, die Jahrtausende überdauerten – wird heute im glasklaren Wasser sichtbar, das einst eine Sichttiefe von 14 Metern ermöglichte.

Doch der See ist nicht nur natürliches Relikt, sondern auch menschliches Werk. Als Ausgleichsbecken für Wasserkraftwerke dient er seit den 1950er Jahren der Energiegewinnung. Wasser aus der Sarca und anderen Bergflüssen wird durch Tunnel und Fallrohre geleitet, um im Tal Strom zu erzeugen. Dabei verändert sich der Wasserstand bis zu 43 Meter – und mit ihm die Landschaft und das Leben im See.

Heute wird das Ökosystem durch gezielte Maßnahmen geschützt, doch das Gleichgewicht bleibt fragil. Wie das Lied der Hirtin Alba, das zwischen Verlust und Hoffnung schwebt, ist auch der Lago di Molveno ein Ort der Gegensätze: natürlich und verändert, wild und gezähmt, lautlos und voller Stimme.

Besuch in einer Welt zwischen Himmel und Wasser

Wer den See umrundet – sei es auf der Straße am Ostufer oder dem alten Karrenweg im Westen –, begibt sich auf eine Reise durch Raum und Zeit. Die napoleonischen Schanzen auf der Halbinsel, das spiegelnde Wasser, der stille Seearm Lago di Bior – alles scheint Geschichten zu flüstern.

Und wenn du abends am Ufer sitzt, wenn das Licht langsam über die Paganella wandert und der See sich in tiefe Blautöne kleidet, horch genau. Vielleicht hörst du sie. Die Stimme Albas. Oder den Pulsschlag der Berge. Oder einfach nur dein eigenes Herz, das im Einklang mit diesem See zu singen beginnt.

Denn manche Orte sind nicht nur Landschaft – sie sind Legende.

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