Wenn man sich aufmacht, den Giessbachfällen zu begegnen, so betritt man nicht bloss ein Naturschauspiel, sondern eine Bühne für Mythen, Sagen und vergessene Zeiten. In 14 wilden Kaskaden stürzt sich das Wasser aus dem Hochtal des Faulhorns über 500 Meter hinunter, als wolle es der Erde selbst eine dramatische Liebeserklärung machen. Und während Gischt und Donner das Tal erfüllen, horcht man unweigerlich auf – denn wer genau hinhört, meint in der Gurgel der Fluten die Stimmen alter Geister zu vernehmen.

Ein Pfad durch Geschichte und Gischt

Schon im 19. Jahrhundert wagten sich Wanderlustige auf einen eigens angelegten Pfad, der unter dem tosenden Wasser hindurchführt. Dieser Weg, schmal wie eine Idee und kühn wie ein Traum, macht es möglich, dem Fall ins Nichts ganz nahe zu kommen – ohne selbst zu stürzen. Die 14 Stufen tragen die Namen bernischer Helden, als wolle das Wasser uns daran erinnern, dass auch der Mutigen Leben vergänglich ist, während der Fluss ewig weiterfliesst.

Man erzählt sich, dass in mondhellen Nächten die Gestalten dieser Helden sich aus dem Wasser lösen, über dem Brienzersee tanzen und schliesslich im silbrigen Nebel verschwinden – als sei der Wasserfall selbst das Tor zu einer Zwischenwelt, in der Geschichte lebendig bleibt.

Das Grandhotel Giessbach – Ein Schloss für Träumer

Am Fusse des Naturtheaters liegt, wie aus einem Märchenbuch gefallen, das Grandhotel Giessbach. Erbaut im Glanz der Belle Époque, ist es mehr als ein Hotel – es ist ein Zeitportal. Wer mit dem nostalgischen Raddampfer „Lötschberg“ von Interlaken kommt und anschliessend die knallrote Giessbachbahn – Europas älteste, nur touristisch genutzte Standseilbahn – besteigt, fühlt sich wie ein Held einer längst vergangenen Romanze.

Innen wie aussen ist das Hotel ein Gedicht aus Licht, Samt und Kristall, aus Salons, in denen Feuer flackert, aus Tapeten, die Geschichten zu erzählen scheinen. Die Zimmer – jedes ein Unikat – verströmen jenen trägen Glanz, der einst Kronprinzen und Dichter, Exzentriker und Schöngeister in seinen Bann schlug. Und auch heute noch ist es nicht schwer, sich hier ein eigenes Kapitel zu erträumen – mit Blick auf den Wasserfall, der in den Schlaf murmelt wie eine altbekannte Sage.

Vom Zauber gerettet

Doch beinahe hätte der Zahn der Zeit dieses Märchenschloss verschlungen. In den 1980er Jahren stand es leer, dem Abriss geweiht. Erst Franz Weber – Retter von Landschaften und Legenden – bewahrte es für das Volk. Seither gehört der Giessbach nicht nur der Schweiz, sondern allen, die träumen können.

Heute schlafen Rucksackreisende in den Gemächern, in denen einst Fürsten logierten, und manch einer, der sich bloss eine Nacht gönnt, erwacht als Erzähler – mit einer Geschichte im Herzen, die er zuvor noch nicht kannte.

Die Giessbachfälle – Wasser und Wunder

Sagen erzählen von einer Nymphe, die in den Wasserfällen wohnt, ihr Haar so weiss wie die Gischt, ihre Augen tief wie der Brienzersee. Wer ihr begegnet, so heisst es, vergisst für einen Augenblick, dass er einst geboren wurde – und lebt ganz im Jetzt. Vielleicht ist das der wahre Zauber dieses Ortes: Dass man für eine Weile alles vergisst, ausser das, was wirklich zählt.

Denn hier, wo Wasser über Felsen tanzt und Licht sich in Tropfen bricht, wo Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfliessen, wird das Reisen zur Rückkehr – zu uns selbst.

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