Der Lungernsee, verborgen im Herzen Obwaldens, liegt wie ein Juwel zwischen schroffen Felswänden, sattgrünen Matten und märchenhaften Wolken, die sich im glitzernden Wasser verlieren. Wer die Kantonsstrasse Richtung Brünig erklimmt und beim Chälrütirank anhält, erblickt ein Panorama, das Herz und Seele weitet: der See, eingerahmt vom Sarneraatal, spiegelt die stolzen Gipfel des Pilatus und des Loppers, als wolle er sie in sich bewahren.

Doch der Lungernsee ist mehr als nur Postkartenidylle. Er ist ein See mit Geschichte – und Geschichten. Seit Jahrhunderten ringt der Mensch hier mit der Natur: Im 18. Jahrhundert senkten die «Trockenen» das Wasserniveau, um fruchtbares Land zu gewinnen, während die «Nassen» dagegenhielten, aus Furcht vor Verlusten. Ein mühsames Unterfangen, das erst 1836 mit einem 420 Meter langen Stollen seinen Abschluss fand. Doch die Freude währte nur kurz – 1921 wurde das Tal erneut geflutet, um Elektrizität zu gewinnen. Und so gingen die neu gewonnenen Felder wieder im Wasser unter.

Im Winter, wenn der Seepegel durch die Stromproduktion stark sinkt, gibt der Lungernsee seine Geheimnisse preis – manchmal allzu wortwörtlich. So geschehen im März 1999, als zwei in Ölfässer einbetonierte Leichen plötzlich aus dem eisigen Schlummer auftauchten. Der Täter, ein Mann aus der Westschweiz, hatte nicht bedacht, dass der See in der kalten Jahreszeit seine Schleier hebt.

Doch nicht nur Kriminalfälle und Ingenieurskunst sind in seinen Tiefen verankert. Nein, es ranken sich auch Sagen und wundersame Geschichten um den Lungernsee und seine Bewohner. Eine davon erzählt von einem Mann aus Lungern – möge Gott seine Seele trösten – der weit mehr sein wollte als nur ein einfacher Brotesser.

Er war ein Sonderling, der einst beim Kaiserstuhl einem feurigen Männchen begegnete, von dessen Flammen er sich genüsslich die Pfeife anzündete. Er berichtete von Feldspiegeln, mit denen man 20 Stunden weit unter und über der Erde sehen könne – als ob er selbst durch die Gesteinsschichten hindurchgeblickt hätte, auf der Suche nach verborgenen Schätzen.

Seine Sense mähte so schnell, dass er ihr kaum nachkam, und selbst dicke Eisennägel fielen ihr beim Aufhängen zum Opfer. Ihre Schärfe, so munkelte man, verdankte sie einem Wetzstein aus Mailand – in sieben Teufels Namen gehärtet. Nur weil er ihn rechtzeitig zerbrach, entging er dem Bund mit der Hölle.

Und dann war da noch der Rechner. Ein mathematisches Genie, das irgendwo im Zugergebiet lebte. Eines Tages kam ihm die Idee, auszurechnen, ob es wohl auf der Welt einen ebenbürtigen Rechner gäbe. Er fand: ja, den gibt es. Also rechnete er weiter – Name, Wohnort, und schrieb ihm: „Ich habe durch Rechnung herausgefunden, dass du so gut rechnen kannst wie ich. Jetzt rechne du, wo ich bin, und schreibe mir.“ Und beim tausend – ein halbes Jahr später kam die Antwort tatsächlich.

Der Lungernsee ist voll solcher Rätsel und Spiegelungen. Wer hier am Ufer steht, dem scheint es, als lausche das Wasser. Vielleicht dem Surren alter Turbinen. Vielleicht alten Stimmen. Vielleicht einer Sense, die durch Gras zischt wie ein Schwert durch Seide.

Heute ist der See ein Paradies für Fischer, Segler und Camper. Ein Ort, an dem Natur und Technik, Geschichte und Fantasie, Sagen und Wissenschaft miteinander tanzen. Und wenn am Abend das Licht über den Wellen flimmert, glaubt man fast, irgendwo am anderen Ufer ein feuriges Männchen zu sehen – das in aller Ruhe seine Pfeife anzündet.

 

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