Der Pfynwald, jener uralte, geheimnisvolle Föhrenhain, breitet sich zwischen den Welten aus, wo die Flüsterungen des Windes noch von längst vergangenen Zeiten erzählen. Einst war dieser Wald, tief verwurzelt im Herzen des Wallis, mehr als nur eine Ansammlung von Bäumen – er war eine Schwelle zwischen Licht und Schatten, eine Passage, die Mutige und Narren auf ihren Reisen beschreiten mussten, während die Dunkelheit sie mit unzähligen Augen aus den Tiefen der Wälder beobachtete. Hier, zwischen Leuk und Siders, erhob sich das Zwielicht wie ein schwerer Vorhang über das Land, und die Wege waren von einer bedrohlichen Stille erfüllt.

Die Föhren, deren knorrige Äste sich wie uralte Finger in den Himmel reckten, waren Zeugen finsterer Geschichten. In diesen Wäldern regierten einst Räuber, die wie Schemen aus den Schatten traten, lautlos und erbarmungslos. Reisende und Händler fürchteten den Pfynwald und seine unbarmherzige Stille. Sie wussten, dass hinter jedem Baum eine unsichtbare Gefahr lauern konnte. Viele von ihnen wählten die sichere Umgehung über die Dalaschlucht, wo die tosenden Wasser der Dala die Stimmen der Verfolger in der Ferne erstickten.

Doch der Pfynwald ist mehr als nur ein Hort des Schreckens vergangener Tage. Er birgt eine uralte Kraft in seinen Wurzeln, eine Magie, die man nur spürt, wenn man aufmerksam lauscht. Zwischen den Föhren erhebt sich ein Flüstern, ein Murmeln der Erde, das von den Mythen der Region erzählt. An den tiefgrünen Moosteppichen und den kristallklaren Bächen, die durch das Dickicht plätschern, erkennt man die Spuren von Fabelwesen, die sich hier im Schutz der dichten Wälder verborgen halten. Der Pfynwald ist eine Welt für sich, eine grüne Kathedrale, die zugleich bezaubert und ein wenig furchteinflößend ist.

Heute, geschützt von den Händen der Naturhüter, entfaltet der Wald eine neue Aura. Der Naturlehrpfad, der sich wie eine sanfte Ader durch dieses sagenumwobene Land schlängelt, führt Eingeweihte an Orte, die voller Geheimnisse und Wunder stecken. Die Luft ist erfüllt vom Duft der Föhrennadeln und der feuchten Erde, und überall surrt und zwitschert es – ein Echo des Lebens, das sich seit Jahrtausenden hier seinen Platz bewahrt hat. Wer diesen Pfad beschreitet, geht nicht nur auf den Wegen der Gegenwart, sondern auch auf den Spuren der Vergangenheit, in denen sich die Legenden der Tiere und Pflanzen tief eingegraben haben.

Doch nicht alles ist im Gleichgewicht. Wie ein dunkler Schatten zieht die geplante Autobahn ihren unsichtbaren Pfad unter der Erde hindurch, während der Kanal der Rhonewerke wie eine klaffende Wunde durch den Wald schneidet. Die glatten Betonwände, kalt und fremd, stehen im scharfen Kontrast zu den lebendigen Pulsadern des Waldes. Das Wasser, einst eine Quelle der Erfrischung und des Lebens, ist nun eine tödliche Falle für die Tiere, die den Wald durchstreifen. Und dennoch, trotz dieser Störung, erhebt sich der Pfynwald weiter, widerstandsfähig und stolz, wie er es seit Jahrtausenden getan hat.

An dieser Schwelle, wo sich die deutsche und französische Sprache treffen, lebt der Pfynwald als Hüter der Grenze. Er ist eine lebende Brücke zwischen Kulturen, eine stille, aber mächtige Präsenz, die die Menschen verbindet und trennt. Wer sich in die Tiefen des Pfynwaldes wagt, begegnet nicht nur der Natur in ihrer urwüchsigen Pracht, sondern auch sich selbst – inmitten der ewigen Stille und des unaufhörlichen Flüsterns des Waldes.

Der Päschol

In einer Nacht, die wie aus einem Traum geschnitten schien, lag der Pfynwald im silbernen Schein des Vollmonds. Die Schatten der Bäume tanzten gespenstisch über den Waldboden, als hätte der Wald selbst ein dunkles Geheimnis zu verbergen. Es war die Art von Nacht, in der die Grenzen zwischen den Welten dünner wurden und die alteingesessenen Legenden erwachten. In der Ferne hallte leises Gelächter und Musik durch die Bäume – ein verbotener Tanzabend, wie er oft in jenen Tagen gefeiert wurde, fernab der Augen der strengen Obrigkeit.

Eine kleine Gruppe junger Menschen aus Leuk hatte sich in den Pfynwald gewagt, um der geheimnisvollen Anziehungskraft des Mondes zu folgen. In einer verlassenen Hütte, tief im Wald verborgen, wurde getanzt und gesungen, bis die Glieder schwer und die Kehlen trocken waren. Die Luft war erfüllt von ausgelassenem Lachen, das sich mit dem Wispern des Waldes vermischte. Als die Müdigkeit die Feiernden überkam, entschied man sich für ein altes Spiel – das Pfänderspiel. Jeder gab ein kleines Pfand, und wer gezogen wurde, musste eine Aufgabe erfüllen, mal lustig, mal gewagt, doch stets in guter Laune.

Es hätte ein Abend bleiben sollen, wie ihn die Gruppe schon oft erlebt hatte, doch an jenem Abend lag eine düstere Vorahnung in der Luft. Als das Spiel seinen Lauf nahm, rief einer der Anwesenden plötzlich mit einem schelmischen Lächeln: „Was, wenn wir dem Päschscholl einen Kuchen bringen?“ Ein Raunen ging durch die Runde, und die sonst so heiteren Gesichter wurden ernster. Der Päschscholl – ein Name, der bis in die dunkelsten Ecken der Köpfe hallte. Nur wenige Tage zuvor war er im Pfynwald gehängt worden, ein gefürchteter Räuber, der das Land lange mit seinen Untaten heimgesucht hatte. Doch obwohl sein Körper am Galgen hing, hieß es, dass sein ruheloser Geist immer noch durch den Wald streifte.

Ein nervöses Lachen erfüllte den Raum, doch die Neugier und der Nervenkitzel siegten. Das Pfand wurde gezogen – ein junger Mann, dessen Name mittlerweile im Nebel der Geschichte verloren ist, war auserwählt, dem toten Räuber einen Kuchen zu bringen. Obwohl sein Herz schwer in der Brust schlug, wollte er den Mut nicht verlieren. Er griff nach dem noch warmen Kuchen und machte sich alleine auf den Weg, begleitet nur vom verstohlenen Wispern der Bäume und dem Licht des unheimlichen Mondes, das ihm den Weg wies.

Als er den Galgen erreichte, war die Luft merkwürdig still. Der Körper des Päschscholl hing schlaff an einem Ast, seine Augen starrten leblos in die Nacht, und doch schien die Dunkelheit um ihn herum zu pulsieren, als würde sie das Böse in ihm noch nicht freigeben. Der Junge zögerte, doch mit zitternden Händen legte er den Kuchen vor den leblosen Körper. „Hier“, murmelte er, „für dich, Päschscholl.“

Und dann, wie von einer unsichtbaren Macht gelenkt, öffneten sich die Lippen des Toten. Eine heisere, kratzende Stimme hallte durch die Nacht, so kalt, dass sie dem jungen Mann das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Ein Kuchen… für mich?“ Die Worte klangen wie das Kratzen von Knochen auf Stein, wie das Echo eines Fluchs, der nie gebrochen wurde. Der Junge wollte fliehen, doch seine Beine waren wie gelähmt. Der Päschscholl hob langsam seinen Kopf, die leeren Augenhöhlen schienen ihn zu fixieren.

„Bleib noch ein Weilchen“, flüsterte der Tote. „Ich habe so lange auf Gesellschaft gewartet…“ Mit diesen Worten löste sich der Körper des Räubers vom Strick und stand vor dem jungen Mann, wie ein Schatten, der sich von der Dunkelheit selbst abgetrennt hatte. Der Boden unter den Füßen des Jungen schien sich zu verflüssigen, und er spürte, wie die Welt um ihn herum verblasste, während der Tote immer näherkam.

„Komm, spiel mit mir“, flüsterte der Päschscholl, seine Stimme ein Echo des Grauens. „Oder wirst du mir auch ein Pfand geben?“

In dieser Nacht verschwand der junge Mann, und obwohl seine Freunde ihn im Morgengrauen suchten, fand man nur den Kuchen, unberührt und kalt, vor dem leeren Galgen. Seitdem sagt man, dass der Geist des Päschscholl in Vollmondnächten durch den Pfynwald wandert, auf der Suche nach jenen, die es wagen, ihm Gesellschaft zu leisten – oder vielleicht nur, um ein weiteres Pfand zu fordern.

So, liebe Wanderer, wenn ihr euch eines Nachts im Pfynwald verirrt und das Mondlicht euch fremde Wege weist, denkt an den Päschscholl. Vielleicht wartet er auch auf euch – mit einem Flüstern, einem dunklen Lachen und einer Frage, die ihr besser nicht beantworten wollt.

Zugang

Der Wald ist frei zugänglich. Parkplätze gibt es beispielsweise bei Ermitage.

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