Versteckt im Herzen des Südtiroler Eggentals, eingebettet zwischen moosgrünen Wäldern und dem stetigen Rauschen des Katzenbachs, ragen sie wie stumme Wächter aus einer anderen Zeit gen Himmel: die Erdpyramiden von Steinegg. Ein Naturwunder, geformt von Jahrtausenden der Erosion – und zugleich das steinerne Echo einer alten Sage, in der es um Hochmut, Betrug und göttliches Gericht geht.
Schon von Weitem kannst du ihre majestätischen Silhouetten erkennen: schlanke Lehmpfeiler, bis zu 30 Meter hoch, gekrönt von steinernen Hüten, als wären sie eigens von der Natur gekleidet worden. Diese bizarren Formationen sind Überbleibsel der Eiszeit – gebildet aus Moränenlehm, der unter harten Decksteinen vor dem Regen geschützt wurde. Der Lehm darunter bleibt so trocken und fest, während rundherum das Erdreich vom Wasser fortgespült wird. Was bleibt, sind diese skulpturalen Wunderwerke: fragil und gleichzeitig urgewaltig.
Doch wer glaubt, hier nur einem geologischen Phänomen zu begegnen, irrt. Denn das Dorf Steinegg kennt eine ganz eigene Erklärung für das Entstehen der Pyramiden – eine, die weniger mit Gletschern und viel mehr mit menschlichem Versagen zu tun hat…
Die Sage der Erdpyramiden
Es war einmal – so erzählt man sich – eine blühende Wiese oberhalb von Steinegg. Reich an Kräutern, weich wie ein grüner Teppich, diente sie seit Generationen dem Pfarrer zur Versorgung. Der Dosserbauer, dem die Bewirtschaftung oblag, sollte dafür einen bescheidenen Pachtzins entrichten.
Doch einer aus dieser Ahnenreihe – stolz, stur und geizig – weigerte sich, den fälligen Obolus zu zahlen. Als der Streit vor das Dorfgericht kam, leugnete der Bauer wahrheitswidrig und bekräftigte seine Lüge sogar mit einem Eid. Die Wiese wurde ihm zugesprochen, denn Urkunden gab es keine. Der Pfarrer senkte traurig den Blick – der Dosserbauer hingegen stieg mit stolzgeschwellter Brust zurück auf seinen Hof.
Doch noch an jenem Tag begann sich der Himmel zu verdüstern. Dicke Wolken türmten sich auf, Blitze tanzten über das Tal, und ein Gewitter von solch apokalyptischer Wucht brach herein, dass selbst die Alten des Dorfes sich erschrocken bekreuzigten.
Als am Morgen endlich Stille einkehrte, zog der Dosserbauer aus, um seine Wiese zu mähen. Doch was er vorfand, war kein üppiges Gras mehr – sondern ein tiefer Abgrund, aus dem nur noch schlammige Zinnen und karge Lehmpfeiler ragten. Die Wiese war verschwunden. Für immer. Und in den gespenstischen Formen der Erdpyramiden sah man fortan das göttliche Urteil – still, aber unübersehbar.
Wandern zwischen Mythos und Erdgeschichte
Wer heute die Steinegger Erdpyramiden besucht, wandelt zwischen Wissenschaft und Legende. Du kannst sie auf einem abwechslungsreichen Rundwanderweg bestaunen: Starte in Steinegg und folge der Markierung „gelbe Pyramiden“ durch die wildromantische Katzenbachschlucht, vorbei am Raffeinerhof bis hinauf zum Dosser-Kreuz. Von hier geht es hinab zu den geheimnisvollen Lehmriesen. Der Rückweg führt dich gemütlich über den Katzenbachweg (Markierung 2) wieder zurück ins Dorf.
Der Weg ist gesäumt von rauschendem Wasser, schattenspendenden Bäumen – und, wer genau hinschaut, vielleicht sogar von den stillen Spuren der alten Sage.
Denn was ist ein Naturdenkmal ohne die Geschichten, die es umgeben?
Vielleicht spürst du beim Anblick der Erdpyramiden ja selbst den Hauch des Unerklärlichen – oder entdeckst darin nur das beeindruckende Werk von Zeit, Wetter und Geologie. In jedem Fall sind sie ein Ort, der Herz und Fantasie gleichermaßen bewegt. Und vielleicht auch eine leise Mahnung daran, dass nicht alles, was wir nehmen, uns auch gehört.
Tipp für Entdecker: Plane deinen Besuch früh am Morgen oder am späten Nachmittag – dann liegt ein ganz besonderes Licht über den Lehmpfeilern, das sie fast unwirklich erscheinen lässt. Und vergiss nicht, einen Moment innezuhalten. Denn wer ganz still ist, hört vielleicht noch das Flüstern der alten Wiese…