Es gibt Berge, die ragen nicht nur in den Himmel, sondern auch tief in die Seele. Einer von ihnen ist das Brienzer Rothorn – ein urzeitliches Bollwerk aus Stein und Wind, thronend auf 2'350 Metern über dem türkisblauen Spiegel des Brienzersees. Es ist der höchste Gipfel der Emmentaler Alpen und doch – oder gerade deshalb – umweht ihn ein Hauch von Geheimnis, von etwas, das älter ist als die Zeit selbst.

Der Aufstieg beginnt harmlos, beinahe verspielt. In Brienz faucht die alte Dampfbahn wie ein schlafendes Tier, das man aus seinen Träumen reißt. Schwarz glänzend und mit dampfendem Atem windet sich die Brienz Rothorn Bahn durch Wälder und Felsen, als folge sie einer uralten Linie, die nicht Menschenhand, sondern der Wille der Erde selbst gezeichnet hat. Der Weg führt vorbei an Abgründen und Lichtungen, die so still sind, dass man meint, jeden Hauch des Windes hören zu können – und vielleicht sogar die Stimmen derer, die einst hier wandelten.

Oben, in der dünneren Luft, verändert sich alles. Der Blick öffnet sich in alle Richtungen – nach Süden auf das glitzernde Wasser des Brienzersees, das im Sonnenlicht wie ein flüssiger Opal leuchtet. Nach Norden über das vergessene Tal der Waldemme, dessen Nebel sich oft wie ein lebendiger Schleier um die Gipfel legt. Doch was wirklich zählt, ist nicht das, was das Auge sieht, sondern das, was die Stille erzählt.

Die vier Himmelsrichtungen, die hier zusammentreffen – Brienz und Schwanden im Kanton Bern, Giswil in Obwalden, Flühli in Luzern – teilen sich den Gipfel wie ein heiliges Relikt. Und vielleicht ist genau das der Grund, warum das Rothorn so beseelt wirkt. Es ist ein Ort der Übergänge, ein Schnittpunkt von Welten. Kein Wunder also, dass man hier von Erscheinungen hört: ein wandernder Jäger ohne Schatten, der sich im Dunst verliert. Eine Frau in altbernischem Gewand, die schweigend über das Geröll schreitet und nie wieder gesehen wird. Oder das Rothorn selbst, das sich in manchen Nächten zu regen scheint, als atme der Berg langsam und tief.

Von Sörenberg aus bringt eine Gondel Besucher lautlos hinauf – wie auf Flügeln schwebend. Und oben, am Gipfel, wo der Wind in alten Sprachen zu sprechen scheint, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, dass einst Götter hier thronten, ihre Blicke über die Täler schweifen ließen, ihre Finger in den Nebel tauchten und Geschichten webten, die bis heute unter dem Gestein flüstern.

Der Brienzer Rothorn ist nicht einfach ein Berg. Er ist ein Spiegel – nicht aus Wasser, sondern aus Wind, Licht und Schweigen. Wer ihn besteigt, tut das nicht nur mit den Füssen, sondern mit dem Herzen. Und wenn man wieder hinabkehrt, bleibt etwas dort oben zurück – ein Gedanke, ein Traum, ein Staunen. Dafür nimmt man etwas anderes mit: das Gefühl, einen Ort betreten zu haben, der nicht ganz von dieser Welt ist.

Wer den Mut hat, dem Himmel so nah zu kommen, der begegnet nicht nur dem Berg – sondern sich selbst.

 

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