Es war ein stiller Morgen im Wallis, als die ersten Sonnenstrahlen die Gipfel der Alpen küssten. Die schroffen Berge, die seit Jahrmillionen wie stumme Wächter über das Tal wachten, erzählten von Geheimnissen, die tief unter der Erde verborgen lagen. Einer dieser Geheimnisse war der Lac Souterrain St. Léonard, der größte natürliche unterirdische See Europas, ein verborgenes Juwel, nur wenige Minuten von Sitten entfernt.

Schon die Reise dorthin war wie das Eintauchen in eine andere Welt. Die Weinberge, die sich die Hänge entlang zogen, wirkten wie schlafende Riesen, deren Wurzeln in die Tiefen der Erde ragten, als wollten sie den See umarmen, der sich in 30 bis 70 Metern unter ihnen befand. Es war, als ob die Berge flüsterten, dass sie mehr als nur Felsen und Erde waren – sie waren die Hüter einer jahrtausendealten Geschichte.

Der Lac Souterrain war seit Jahrhunderten ein verborgenes Geheimnis, bekannt vielleicht nur den Einheimischen und den wenigen, die den Mut hatten, die Dunkelheit der Höhlen zu betreten. Doch erst 1943 wurde er offiziell entdeckt, und seit 1949 können Besucher auf seinen stillen Wassern dahingleiten, getragen von der Unendlichkeit der Geschichte und der Tiefe der Natur.

Als du die Höhle betrittst, umfängt dich ein kühles, feuchtes Schweigen. Es ist, als würde die Zeit hier stillstehen. Die Luft riecht nach frischem Gestein und einem Hauch von Mineralien, die seit Urzeiten in den Tiefen der Erde ruhen. Ein polyglotter Führer, dessen Stimme sanft in die Dunkelheit hallt, leitet dich zum Ruderboot, das dich in dieses verborgene Reich führen wird.

Das Wasser ist so klar, dass es den Anschein hat, als würdest du auf Luft schweben. Unter dir spiegeln sich die steinernen Decken der Höhle, verzerrt durch die sanften Wellen des Ruderschlags, doch die Illusion ist perfekt – es ist, als würde sich die Welt auf den Kopf stellen. Die Wände um dich herum leuchten im schwachen Licht wie ein steinernes Mosaik, geschaffen von der Hand der Natur über Jahrtausende hinweg.

Während du über den See gleitest, erzählt der Führer von den Kräften, die diesen Ort geformt haben. Die Alpen, die sich in einem epischen Tanz von Feuer und Eis erhoben haben, umarmten den Lac Souterrain in ihrem Herzen und schenkten ihm sein Zuhause. Der See war Zeuge des großen Aufbäumens der Erde, als die Kontinente kollidierten und die Berge in den Himmel wuchsen. Er hat die Ankunft der ersten Menschen gesehen, die über die Pässe kamen, auf der Suche nach neuem Land, nach Heimat.

Die Stille ist allumfassend, unterbrochen nur vom sanften Plätschern der Ruder im Wasser. Jede Welle scheint eine Geschichte zu flüstern, eine Erinnerung an vergangene Zeiten, die in den Tiefen des Sees ruhen. Hier unten, abgeschirmt von der Welt, spürst du eine tiefe Verbindung zur Natur, zu den Elementen und zur Geschichte der Erde selbst.

Als die Führung nach 30 Minuten endet und das Boot zurück zum Ufer gleitet, hast du das Gefühl, eine Reise durch die Zeit unternommen zu haben. Die Höhle, der See, die Berge – sie alle haben ihre Geheimnisse mit dir geteilt, und du fühlst dich, als hättest du einen Teil ihrer Seele berührt. Es ist ein Ort, der sich nicht nur im Gedächtnis, sondern auch im Herzen einprägt.

Der Lac Souterrain St. Léonard – ein stiller, mystischer Zeuge der Vergangenheit, ein Ort, der dich dazu einlädt, innezuhalten und die unermessliche Schönheit der Natur in all ihrer stillen Pracht zu bewundern. Ein Besuch, der die Grenzen der Zeit verwischt und dir die Ewigkeit der Alpen in ihrer reinsten Form offenbart.

Hintergrund

Der Lac Souterrain de Saint-Léonard ist mit 6'000 m² der größte natürliche unterirdische See Europas, gelegen in der Schweiz, zwischen Sitten und Siders. Die Höhle wird jährlich von rund 100'000 Menschen besucht. Der künstlich entstandene Hinterbrühler See in Niederösterreich ist etwas größer, jedoch nur durch Wassereinbruch nach einer Sprengung entstanden und erfordert ständiges Abpumpen.

Die Höhle von Saint-Léonard war den Einheimischen lange bekannt, wurde jedoch erst 1943 vom Höhlenforscher Jean-Jacques Pittard erkundet. Nach einem Erdbeben 1946 sank der Wasserspiegel und 1949 begann der Tourismus mit Bootsfahrten. 2000 schloss die Höhle nach dem Absturz eines Felsblocks, wurde aber nach umfangreichen Sicherungsarbeiten 2003 wiedereröffnet.

Der See ist 300 Meter lang, etwa 20 Meter breit und konstant 11 Grad warm. Weitere Höhlen, hinter Felsblöcken versteckt, sind für Besucher nicht zugänglich. Fledermäuse leben natürlich in der Höhle, während Forellen gezielt eingesetzt wurden.

Zugang

Der See ist von Frühling bis Herbst zugänglich. Die Bootsfahrt kostet Eintritt.

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