Im Herzen des Vinschgaus, dort, wo sich Tirols Berge wie schlafende Riesen am Himmel recken und der Wind alte Geschichten durch die Täler trägt, ragt ein Turm aus dem Wasser. Still. Majestätisch. Unwirklich. Wie ein Mahnmal vergangener Zeiten. Es ist der Kirchturm von Alt-Graun – das letzte sichtbare Relikt eines Dorfes, das die Fluten verschlangen.
Ein Ort, so schön wie ein Märchen – und so traurig wie eine Klage
Der Reschensee, heute ein beliebtes Ausflugsziel für Wanderer, Wassersportler und Träumer, war einst fruchtbares Land. Dort, wo heute das Wasser glitzert und die Segelboote tanzen, lebten Menschen in kleinen Weilern mit Namen wie Gorf, Arlung, Stockerhöfe. Es war ein hartes, aber aufrichtiges Leben. Bis im Sommer 1950 die Zeit selbst den Atem anhielt.
Für ein großes Kraftwerksprojekt wurde das Tal geflutet – nicht schleichend, sondern brachial. Häuser, Ställe, Scheunen – alles fiel dem Wasser zum Opfer. Die Bewohner wurden enteignet, entwurzelt, vertrieben. Zurück blieb nur die Spitze eines Widerstands: die Kirche von Alt-Graun, genauer gesagt, ihr aus dem 14. Jahrhundert stammender Turm, der sich trotzig über das Wasser erhebt, als wolle er dem Himmel zurufen: „Ich war da, ich bin da, ich werde da sein.“
Die Legende vom Glöckner aus der Tiefe
Doch der Turm birgt mehr als nur Geschichte – er bewahrt ein Geheimnis. Eine Sage, die sich wie Nebel über das stille Wasser legt:
Man sagt, in besonders klaren Nächten oder wenn der Nebel vom See aufsteigt wie der Atem einer alten Seele, seien Glocken zu hören. Glocken, die längst nicht mehr da sein dürften, denn sie wurden vor der Flutung entfernt. Und doch: Ihr Klang durchbricht die Stille, hallt über den See, erreicht die Herzen derer, die zuhören wollen.
Die Alten erzählen von einem Glöckner, der nicht mit seinem Dorf ging, der sich weigerte, Alt-Graun zu verlassen. Als das Wasser kam, sei er im Turm geblieben. Man fand ihn nie. Manche sagen, er sei ertrunken, andere, er sei mit der Kirche verschmolzen, sei heute selbst der Geist, der die Glocken läutet.
Wenn der Wind über den See fegt, erzählen sich die Kinder von Graun, dass er wieder unterwegs sei – der Glöckner, der mit seinem Glockenschlag alte Wunden aufreißt. Nicht aus Bosheit. Sondern aus Sehnsucht. Nach seinem Dorf. Nach einem Leben, das er nie loslassen konnte.
Besuch am Rande der Wirklichkeit
Der Kirchturm im Reschensee ist heute ein weltbekanntes Fotomotiv, gelistet unter den „15 märchenhaftesten Orten der Welt“. Aber wer nur mit der Kamera kommt, verpasst das Wesentliche. Denn dieser Ort ist nicht nur schön – er ist durchdrungen von Geschichte und Geist.
Der See ist über die Vinschgauer Staatsstraße leicht zu erreichen. Ein Parkplatz mit Aussichtsplattform bietet einen wunderbaren Blick auf das Wahrzeichen. Und wer mehr als nur schauen will, dem sei die vierstündige Wanderung rund um den See empfohlen – ein 15 Kilometer langer Weg der Besinnung.
Im Museum Vinschger Oberland in Graun erzählen alte Fotos, Dokumente und Zeitzeugenberichte von der Zwangsenteignung, von Widerstand, Verzweiflung – aber auch von Heimatliebe.
Ein Mahnmal in stiller Schönheit
So steht er da, der Turm von Alt-Graun. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Märchen und Mahnung. Er ist ein Denkmal an jene, die ihre Heimat verloren. Ein mystischer Wächter über vergessene Dörfer. Und vielleicht, wenn du ganz genau hinhörst – nur vielleicht – hörst auch du sie: die Glocken aus der Tiefe.
Und wenn du sie hörst, vergiss nicht, innezuhalten. Denn manchmal klingen Legenden lauter als jede Wahrheit.